"Der Junge und der Reiher" von Hayao Miyazaki: Nimm mich mit, Grinsekatzenbus! (2024)

In seinem wohl letzten Film stellt sich der fantastische Animationskünstler Hayao Miyazaki den ganz großen Fragen. 

Von Jens Balzer

Aus der ZEIT Nr.02/2024

Veröffentlicht am
Erschienen in DIE ZEIT Nr.2/2024

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"Der Junge und der Reiher" von Hayao Miyazaki: Nimm mich mit, Grinsekatzenbus! (1)

Vorsicht vor Graureihern, man kann ihnen nicht trauen. Von fern mögen sie majestätisch und rätselhaft wirken, wenn sie unbewegt an den Ufern von Weihern und Flüssen die Welt an sich vorbeiziehen lassen – aber so unbeteiligt sind sie gar nicht. Der junge Mahito jedenfalls verfällt einem solchen Vogel. Und fällt auf ihn herein. Denn der Reiher verspricht, ihn zu seiner tot geglaubten Mutter zu führen, angeblich wohnt sie in einem verfallenen Turm, der seit dem Verschwinden des Erbauers verschlossen ist. Hinter der Tür des Turms öffnen sich viele weitere Türen, und durch jede gelangt man in eine andere Welt. Mahito findet sich in verwunschenen Gärten wieder, von glitzerndem Tau benetzt und von sanften Brisen belebt; er tastet sich durch Ruinen und Tunnel, an deren Wänden gewaltige Regale mit uralten Folianten angebracht sind; er fällt in tiefste Tiefen, fahl beflackert von unwirklichem Licht, und er klettert in höchste Höhen empor, über denen die Sonne sich in vielen Farben bricht; und als er der Sonne am nächsten kommt, begegnet er einem Demiurgen, der ihn zu seinem Schüler zu machen versucht.

Der Junge und der Reiher heißt der neue Film des japanischen Animationsmeisters Hayao Miyazaki – jedenfalls in der deutschen Version. Der Titel des Originals, Kimitachi wa Dō Ikiru ka, zu Deutsch "Wie lebt ihr?", trifft das Thema besser, aber dazu später mehr. Von der ersten Szene an treibt der Blick durch Bilder, die sich unaufhörlich verwandeln: durch ein Zwischenreich, bevölkert von Zwitterwesen, von menschenähnlichen Tieren und von Mythen- und Märchenfiguren. Der junge Mahito ist in diese weiche Welt hineingeraten, als er aus der harten Wirklichkeit des Krieges floh. Wir befinden uns in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, in den ersten Szenen des Films sieht man Fliegerangriffe auf das brennende Tokio. Mahitos Mutter kommt in den Flammen um; gemeinsam mit seinem Vater zieht er aufs sichere Land, doch dort fühlt er sich fremd, ungeliebt von seiner Stiefmutter, unbehaust, auf der Suche nach Erlösung von seinem Trauma.

Auf dieser Suche gerät er an den dubiosen Reiher und in den verfallenen Turm. Von den Wesen, denen er dort begegnet, verspricht er sich Erlösung und Halt. Doch wird er immer wieder von ihnen enttäuscht. Viele dieser Fabelgestalten zitieren japanische Mythen, manche auch die Zeitgeschichte: Erst bedroht ein Schwarm leicht reizbarer Pelikane den Jungen, dann eine Horde von schwarzen Kröten – und schließlich eine Sippe von menschenfressenden Sittichen mit militärischen Riten, deren Obersittich in Uniform und Gebaren an Mussolini erinnert. Alle Bilder sind von Hand gemalt, gezeichnet, getupft, jede Szene ist beseelt mit der Zärtlichkeit der klassischen Animationskunst, der Miyazaki hier zu ihrem vielleicht letzten Triumph verhilft. Kein computergeneriertes Bild bricht das Fließen, keine gerade Linie, keine monochrome Fläche, alles schwirrt, schillert, wimmelt, alles fliegt davon wie die merkwürdigen Vögel – und wie Mahitos Erinnerung an die verstorbene Mutter; wie die Kindheit, von der er sich nun ebenfalls zu trennen hat.

So handelt dieser Film vom Abschiednehmen und davon, wie man weiterlebt nach dem Schmerz einer endgültigen Trennung. Man nimmt auch Abschied von einem großen Regisseur, denn ohne Frage wird dies der letzte abendfüllende Film des 82-jährigen Miyazaki gewesen sein. In Japan verehrt man ihn wie einen Nationalkünstler. In seinem sechzig Jahre umspannenden Schaffen hat er Mythen- und Märchenfiguren geschaffen, die bis heute tief im kollektiven Bewusstsein verankert sind: die grimmige Prinzessin Mononoke auf ihrem drei Jahrhunderte alten weißen Wolf, die freundliche Hexe Kiki auf ihrem Besen, das gespenstische Ohngesicht aus Chihiros Reise ins Zauberland (ein stummer Geist mit weißer Maske) und allen voran die freundlichen Totoros – Trolle – aus seinem Film Mein Nachbar Totoro aus dem Jahr 1988, die in einem großen gelben Grinsekatzenbus reisen. Sie spenden Geborgenheit und trösten einsame Kinder.

Geboren 1941, begann Miyazaki seine Karriere in der erblühenden japanischen Animationsfilmindustrie der Sechzigerjahre, als Zwischenphasenzeichner und Layouter bei Fernsehtrickfilmen. Er zeichnete zunächst an den verschiedensten Arten von Serien, an Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten ebenso wie an Familien-Soaps und Adaptionen – meist europäischer – klassischer Jugendgeschichten. So war er Anfang der Siebzigerjahre als Artdirector für die Arupusu no Shōjo Haiji-Serie tätig, die sich als Heidi auch im deutschen Fernsehen lange Zeit großer Beliebtheit erfreute. Ende der Siebziger begann er sich vom Lohn- und Industriezeichner zum Auteur zu entwickeln – zum Autor mit individueller Handschrift. 1985 gründete er mit zwei Kompagnons sein eigenes Animationsstudio, das Studio Ghibli, in dem seither zwei Dutzend Filme entstanden sind.

Deren Leitmotiv war schon immer die unerfüllbare Sehnsucht nach der Vergangenheit. So spielte der erste Film, den er im Studio Ghibli produzierteDas Schloss im Himmel (1986) –, in einem imaginierten Europa am Beginn der Industrialisierung; in dieser Welt durcheilen Zeppeline mit Luftpiraten den Himmel, und auf einer fliegenden Insel hegt ein Roboter einen verwunschenen Garten und hütet das Geheimnis einer untergegangenen Zivilisation. Hier wie in den folgenden Filmen Kikis kleiner Lieferservice (1989) und Porco Rosso (1992) erschuf Miyazaki das Bild einer frühen Moderne, in der die Technik mit Dampf und mechanischen Teilen funktioniert – und in der die Menschen auf die Modernisierung noch hoffen, weil sie glauben, dass sie sich auf eine behutsame, vielleicht abenteuerliche, aber jedenfalls unbedrohliche Weise vollzieht. Zur realen Modernisierung Japans nach dem Zweiten Weltkrieg war dies das perfekte Gegenbild: In einem Land, das in kaum zwanzig Jahren vom Agrarstaat zur Industrienation umgebaut worden war, begann die Gesellschaft sich spätestens in den Achtzigerjahren nach einer Vergangenheit zu sehnen, die sie niemals besessen hatte. Miyazaki schenkte ihr Bilder eines viktorianischen Techno-Idylls (später sagte man "Steampunk" dazu); und er schenkte ihr Geschichten aus der Übergangszeit zwischen dem Ende der Tradition und dem Beginn der Moderne: als die Dinge bereits in Bewegung geraten, doch bevor der rasende, reißende Wandel beginnt.

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